OVG Lüneburg – keine Sicherstellung eines auf dem Bahnhofsvorplatz angeschlossenen Fahrrads im Wege der Ersatzvornahme


Im August 2005 stellte der Kläger sein Fahrrad auf dem Bahnhofsvorplatz in Göttingen neben zwei mit der Rückenlehne aneinander gestellten Bänken ab und sicherte es mit einem Fahrradschloss an der Armlehne einer Bank. Die Stadt ließ das Schloss zerstören und das Fahrrad zu ihrem Baubetriebshof verbringen und verlangte vom Kläger mit Bescheid die Kosten der Ersatzvornahme von 45,60 €.
Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt, weil das Fahrrad andere Personen behindert habe und durch die Ankettung die Bank beschädigt worden sei.

Das Verwaltungsgericht Göttingen hob nach erfolglosem Widerspruchsverfahren den Bescheid der beklagten Stadt aufgehoben. Es hat die Auffassung vertreten, von dem Fahrrad des Klägers sei keine gegenwärtige Gefahr ausgegangen. Ein Behindern i.S.d. § 2 Abs. 2 StVO habe nicht vorgelegen, weil es an einer hinreichend nachhaltigen Beeinträchtigung fremden Verkehrsverhaltens gefehlt habe. Eine einigermaßen nachhaltige Beeinträchtigung sei auch nicht darin zu sehen, dass eine an der Außenseite der Bank sitzende Person durch das Schloss daran gehindert worden sein könnte, ihren Arm auf der Armlehne abzulegen. Selbst wenn man eine geringfügige Beeinträchtigung bejahte, habe die Beklagte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend beachtet. Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sei nicht gegeben, denn das Verhalten des Klägers sei vom Gemeingebrauch der Verkehrsfläche umfasst und als gemeinverträglich anzusehen.

Die Stadt Göttingen beantragt beim OVG Lüneburg die Zulassung der Berufung und blieb ohne Erfolg. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des VG Göttingen seien nicht gegeben.

Aus den Gründen:

Soweit die Beklagte geltend macht, das Verwaltungsgericht habe den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 StVO nicht hinreichend gewürdigt, denn es habe das Merkmal der „Belästigung“ außer Acht gelassen, begründet dies keine ergebnisrelevanten Richtigkeitszweifel.

Das Abstellen von Fahrrädern auf für den Fußgängerverkehr bestimmten öffentlichen Verkehrsflächen – wie hier dem Bahnhofsvorplatz – stellt grundsätzlich eine den straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen entsprechende (vgl. BVerwG, U. v. 29.1.2004 – 3 C 29/03 -, NJW 2004, 1815; Nds. OVG, U. v. 6.6.2003 – 12 LB 68/03 -, … ; VG Lüneburg, U. vom 25.9.2002 – 5 A 161/01 -, NZV 2003, 255) Ausübung des Gemeingebrauchs dar (vgl. Kodal, Straßenrecht, 6. Auflage, Kap. 24 Rn. 52; Kettler, Das Abschleppen von Fahrrädern, NZV 2003, 209). Allerdings hat sich gemäß § 1 Abs. 2 StVO jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Eine Behinderung in diesem straßenverkehrsrechtlichen Sinn liegt vor, wenn durch das Verhalten des Verkehrsteilnehmers ein fremdes, beabsichtigtes Verhalten eines Anderen einigermaßen nachhaltig beeinträchtigt oder verhindert wird (OVG NRW, B. v. 30.1.2009 – 5 A 2239/08 -, … ; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage, StVO § 1 Rn. 40). Auch eine Belästigung anderer ist – soweit vermeidbar – untersagt, doch ist Voraussetzung, dass die Beeinträchtigung nach Art und Maß das Verkehrsbedürfnis übersteigt und als störend empfunden wird (Hentschel, a.a.O., StVO § 1 Rn. 42); auch insoweit ist eine gewisse Nachhaltigkeit der Beeinträchtigung gefordert. Die Nachhaltigkeit einer Beeinträchtigung oder Belästigung muss dabei jedenfalls so gewichtig sein, dass die „Schwere der Tat“ die Bußgeldbewehrung des Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO) nach rechtsstaatlichen Grundsätzen rechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass derartige Regelungen ein verkehrsgerechtes Miteinander aller Verkehrsteilnehmer auf den öffentlichen Straßen durchsetzen und damit der Verkehrssicherheit dienen sollen. Deshalb sind alle Umstände des Einzelfalles zu bewerten, wenn auf die Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO zurückgegriffen werden soll (vgl. BGH, B. v. 9. 12.1986 – 4 StR 436/86 -, NJW 1987, 913).

Diese Bewertung der Umstände des Einzelfalls hat das Verwaltungsgericht vorgenommen. Es hat Feststellungen zu der Art und Weise getroffen, in der der Kläger sein Fahrrad am fraglichen Tag neben zwei Bänken auf dem Bahnhofsvorplatz abgestellt und wie er sein Fahrrad an der Armlehne einer Bank angeschlossen hat. Diese Feststellungen hat es unter Einbeziehung eigener Ortskenntnis dahin gewürdigt, dass dadurch keine nachhaltige Beeinträchtigung von Passanten, insbesondere Rollstuhlfahrern, verursacht worden sei. Damit hat es ein Behindern fremden Verkehrsverhaltens nachvollziehbar verneint.

Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich auch eine – nachhaltige – Behinderung bei der Benutzung der Armlehne der Bank durch Andere verneint. Damit hat es – wenngleich ohne dies ausdrücklich hervorzuheben – eine anderweitige Beeinträchtigung Anderer, die sich nicht in einer Änderung deren Verkehrsverhaltens äußert, und damit die seitens der Beklagten geltend gemachte Belästigung von Anderen i.S.d. § 1 Abs. 2 StVO in den Blick genommen. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht indes auch insoweit geprüft, ob eine hinreichend nachhaltige Beeinträchtigung gegeben war. Die seitens der Beklagten gerügte Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Nutzung der Bank hat es dabei ausweislich des Lichtbilds (…) im Ergebnis zutreffend dahingehend gewürdigt, dass einer etwaigen Beeinträchtigung jedenfalls das notwendige Gewicht gefehlt habe und somit ein die Schwelle zur Ordnungswidrigkeit überschreitendes „Fehlverhalten“ des Klägers nicht vorgelegen hat. Die mit dem Begriff der Nachahmungsgefahr geltend gemachten Befürchtungen der Beklagten, aufgrund einer „Vorbildwirkung“ sei zunehmend mit behindernd oder belästigend abgestellten Fahrräder zu rechnen, vermögen ein Einschreiten gegen den Kläger nicht zu begründen, solange von seinem Fahrzeug keine Gefahr ausgeht. Generalpräventive Erwägungen dieser Art rechtfertigen ein ordnungsrechtliches Einschreiten gegen einen „Nichtstörer“ (vgl. § 8 Nds. SOG) nicht.
Die von der Beklagten geltend gemachte „optische Belästigung“ ist nicht geeignet, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen. Vorstellungen der Beklagten oder der von ihr angeführten Öffentlichkeit zur Attraktivität der Verkehrsflächen stellen wie auch die weiteren ästhetischen Darlegungen zum „Werbecharakter“ des Bahnhofsvorplatzes gegenüber ortsfremden Reisenden keine straßenverkehrsrechtlichen Gründe dar. Derartige Erwägungen liegen – unabhängig von dem zur Gestaltung des Platzes betriebenen Verwaltungsaufwand – außerhalb des tatbestandlichen Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 2 StVO (VG Lüneburg, a.a.O., NZV 2003, 255; Kettler, a.a.O., NZV 2003, 209).

Es begründet auch keine Richtigkeitszweifel an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, wenn die Beklagte diese ästhetischen Erwägungen mit dem Begriff des „öffentlichen Ärgernisses“ zusammenfasst und einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung i.S.d. ordnungsrechtlichen Gefahrbegriffs (§ 2 Nr. 1 lit. a Nds. SOG) geltend macht. Dies ist von Rechts wegen nicht geeignet, ihr Einschreiten zu rechtfertigen. Für die Annahme von „ungeschriebenen Regeln“, wie dies der Rechtsbegriff der öffentlichen Ordnung voraussetzt, ist jedenfalls dann kein Raum, wenn der Gesetzgeber eine normative Regelung getroffen hat (vgl. Waechter, Polizei- und Ordnungsrecht, 2000, Rn. 213, 216; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Auflage, Rn. 126), wie dies vorliegend hinsichtlich der straßen- und straßenverkehrsrechtlichen Zulässigkeit des Parkens von Fahrzeugen einschließlich des Abstellens von Fahrrädern auf für den Fußgängerverkehr bestimmten Verkehrsflächen der Fall ist. Das Straßenverkehrsrecht trifft insoweit abschließend alle diejenigen Regelungen der Ausübung des Gemeingebrauchs, die verkehrsbezogen ordnungsrechtlicher Art sind (vgl. BVerfG, NJW 1985, 371; Götz, a.a.O., Rn. 133).

Soweit die Beklagte Einwände gegen die Ausführungen des Verwaltungsgericht zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erhebt, greifen diese bereits deshalb nicht durch, weil es sich insoweit nicht um die Entscheidung tragende Überlegungen des Verwaltungsgerichts handelt, diese von ihm vielmehr ausdrücklich nur für den Fall der Annahme einer zuvor bereits verneinten (geringfügigen) Behinderung angestellt wurden. (…)

OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.03.2009, Az: 11 LA 172/08 (Volltext)
Vorinstanz: VG Göttingen, Urteil vom 01.04.2008, Az: 1 A 274/05

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